Auswahlkriterien zur Person

Finanzielle Probleme der Eltern in den frühen dreißiger Jahren, eine stark autoritäre Erziehung in der Volksschule, der Eintritt in die „Hitler-Jugend“ als Zehnjähriger – in vielerlei Hinsicht stellt die Lebensgeschichte Henry Beissels ein durchaus typisches Beispiel einer Kindheit im NS-Regime dar. In einem Punkt jedoch weicht sie von den „üblichen“ Biographien ab. Während der Großteil seiner Altersgenossen, geprägt durch die nationalsozialistische Erziehung in HJ und Schule, ohne weiteres ihren Jugenddienstpflichten im nationalsozialistischen Staat nachgeht, steht Henry Beissel der NS-Jugendorganisation von Beginn an kritisch gegenüber.

Diese eher emotionale denn politische Ablehnung bleibt jedoch ambivalent. Während Henry den militärischen Appellen und Aufmärschen der Jugendorganisation durch Ausreden zu entgehen versucht, findet er an anderen Aktivitäten großen Gefallen. An Wanderungen, Ausflügen oder Kinoabenden nimmt er gerne teil. Daher ist diese Lebensgeschichte ein beeindruckendes Beispiel für die Faszination, die einzelne Aspekte des NS-Regimes selbst auf kritische Menschen hatte. Gleichzeitig wird anhand dieser Biographie jedoch deutlich, dass es für einen Jugendlichen, dessen nahezu gesamtes Leben sich unter der Diktatur des „Dritten Reiches“ mitsamt aller NS-Erziehung und Propaganda abgespielt hat, dennoch möglich war, seinen eigenen kritischen Geist zu bewahren. In dieser Hinsicht stellt die Lebensgeschichte ein interessantes, wenn auch keineswegs alltägliches Beispiel einer Jugend im NS-Deutschland dar.

Ferner wirft diese Biographie ein Licht auf den Umgang mit der eigenen Vergangenheit und die bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung. Während sich die deutsche Gesellschaft bereits kurz nach Kriegsende aufmacht, die eigene NS-Vergangenheit zu verdrängen, wandert Henry Beissel Anfang der 1950er Jahre nach Kanada aus. Dies stellt einen radikalen Bruch mit seinem Heimatland dar, dessen Gesellschaft ihm nach wie vor nazistisch erscheint. Noch in den 1960er Jahren sieht er Kontinuitäten zur NS-Zeit, die ihm das Leben in der Bundesrepublik unmöglich machen. Wenngleich wenige Menschen einen derart radikalen Schritt vollzogen, so ist diese Lebensgeschichte dennoch ein Beispiel für den schwierigen Prozess der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, der in der bundesdeutschen Gesellschaft erst Jahrzehnte nach Beissels Auswanderung im Zuge der `68er Studentenunruhen angestoßen wird.

Die Lebensgeschichte ist allerdings auch eine Geschichte der Versöhnung mit der Heimat. Jahrzehntelang hatte Henry Beissel mit jeglichem Aspekt seiner deutschen Herkunft gebrochen. Im Jahr 2002 besucht er Köln, um sich seiner Vergangenheit zu stellen. Ohne die Vorwürfe und Kritik der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu relativieren, schlägt er in seinem 73. Lebensjahr versöhnlichere Töne an: „Die deutsche Gesellschaft hat sich geändert“
ist sein Fazit 57 Jahre nach Kriegsende.