Auswahlkriterien zur Person

Diese Biographie ist im Rahmen eines Seminars an der Heinrich-Heine Universität entstanden. Über eine Empfehlung meiner Mutter, die in einem Seniorenheim in Viersen-Dülken arbeitet, habe ich den Kontakt zu Karl Hensel aufgenommen und ihn gebeten, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.

An meiner Auswahl von Karl Hensel zur Erstellung einer Biografie mit einem Betrachtungsschwerpunkt in der NS-Zeit hat mich im Vorfeld vor allem die Wandlung vom unangepassten Jugendlichen zum pflichtbewussten Soldaten interessiert. Zudem war Karl Hensel schon mit den Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges konfrontiert (Geburtsjahrgang 1915) und hat den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt. Somit gehört er zu der Generation, die mit der Kriegsniederlage von 1918 aufgewachsen ist, die Zeit der Massenarbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen des Dritten Reichs und dessen Niedergang sowie das „Wirtschaftswunder“ der 50er Jahre in der Bundesrepublik persönlich erfahren hat.

Die Lebensgeschichte von Karl Hensel steht zunächst stellvertretend für jene Mitglieder der katholischen Jugend, die eine unangepasste Einstellung gegenüber der Hitler-Jugend bzw. der aufstrebenden Diktatur des NS-Regimes zeigten. Viele der katholischen Jugendlichen waren auf dem Fundament ihres Glaubens eher kulturell interessiert und entzogen sich mit Ihren religiösen Werten dem militärischen Stil der Hitler-Jugend. Durch diese Distanzierung vom NS-Regime machten sie sich, so auch Karl Hensel, gegenüber dem NS-Regime angreifbar. Es zeugt jedoch von einem besonderen Mut, dass Karl Hensel für seine Überzeugung auch persönliche Konsequenzen in Kauf nahm. Er weigerte sich, sich der HJ beizutreten und den Freiwilligen Arbeitsdienst zu absolvieren. Ersteres führte zum erzwungenen Abgang von der Schule, letzteres zum Verlust der ersten Ausbildungsstelle. In diesen Strafen werden auch die Sanktionsmechanismen eines totalitären Regimes gegenüber unangepassten Jugendlichen deutlich.

Bei seinen weiteren Lebensstationen zeigt sich bei Karl Hensel aber doch eine gewisses „Mitläufer-Denken“, vor allem während seiner Zeit bei der Wehrmacht wird eine Anpassung an das NS-System erkennbar, als er z. B. anlässlich seiner Eheschließung mit Stolz sein Rangabzeichen nach einer Beförderung trägt. Karl Hensel hat sich somit, da er weder Widerstandkämpfer noch „Soldat mit ganzem Herzen“ war, in das herrschende System integriert, ohne wirklich davon überzeugt zu sein. Seine Lebensgeschichte verdeutlicht, wie das System auch jene Menschen zu „Rädchen im Getriebe“ formte, die sich ihm nicht mit Haut und Haar verschrieben.

Im Interview selbst zeigte sich dann ein weiteres Phänomen, das – zumindest für einen Teil der Wehrmachtssoldaten – als typisch zu bezeichnen ist. Es handelt sich hierbei um die Schwierigkeiten Karl Hensels, über sein Leben und seine Empfindungen während seiner Zeit bei der Wehrmacht zu berichten. Während des Gesprächs konnte man beobachten, dass er sich bei Nachfragen zu Geschehnissen und Erlebnissen während des Krieges oft nicht erinnern konnte oder über die Frage hinweg erzählte. „Wenn ehemalige Soldaten der Deutschen Wehrmacht überhaupt vom Krieg erzählen, dann in einer Form, die die eigene Person, das eigene Handeln und die schreckliche Seite des Krieges möglichst nicht zum Thema macht.“ (Hornung, Ela: „Das Schweigen zum Sprechen bringen“, in: Walter Mauerschek (Hg.): „Die Wehrmacht und der Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front“, Wien 1996, S. 185) Dieses Schweigen kann einerseits darin begründet liegen, dass die eigene Rolle in dem verbrecherischen Angriffskrieg nicht thematisiert werden soll. Es kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass die persönlichen Traumatisierungen durch den Krieg zu einer Verdrängung geführt haben. Vielleicht zählt er aber auch zu den wenigen Soldaten, die von grausamen Erfahrungen während Wehrmachtszeit ganz verschont blieben. Mir fehlten im Rahmen des Seminars die Möglichkeiten, darüber ein Urteil zu fällen.

Meine Erwartungen an das Interview und die Person Karl Hensel wurden damit nur zum Teil erfüllt. Ich konnte viele Informationen über ein bewegtes Leben in einer subjektiven Darstellung der Kriegsjahre aufnehmen, die ich bislang nur aus Büchern oder Filmen kannte. Bedauerlich ist jedoch, dass das Gespräch in Bezug auf die Erlebnisse eines Soldaten des Dritten Reiches nur oberflächlich blieb. Vielleicht lag es auch daran, dass ich Karl Hensel nur wenig kenne und er sich mir nicht ganz öffnen konnte oder wollte. Dies abschließend zu bewerten, fällt schwer.

Insgesamt erscheint die Lebensgeschichte des Karl Hensel exemplarisch für den Druck, der vom NS-Regime auf die Bevölkerung ausgeübt wurde und anfänglich unangepasste Bürger zu Mitläufern formte, die dann widerspruchslos an den Fronten des Zweiten Weltkrieges gekämpft haben. In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, welchen wichtigen Bezugspunkt die weit entfernte Partnerin darstellte und wie stabilisierend sich der enge Kontakt zur „Heimatfront“ auswirkte. Der Rückzug in die „Privatwelt“ ist sicher in einem hohen Maße für das Anpassungsvermögen des jungen Soldaten Karl Hensel ausschlaggebend.

Gerade in dieser Hinsicht mag das Interview mit Karl Hensel für das Verstehen von menschlichen Verhaltensweisen in der Zeit von 1933 bis 1945 (und darüber hinaus) für uns „Nachgeborene“ hilfreich sein.