Aus Zivilcourage wird „Verrat am Volke“

Weil Marie Kahle und ihre Sohn Wilhelm der Nachbarin Emilie Goldstein nach der Pogromnacht am 10. November 1938 beim Aufräumen ihres Ladens helfen, muss die siebenköpfige Familie erleben, wie man ihr friedliches Leben in Bonn zerstört und sie schließlich in die Emigration nach England zwingt.

Marie Kahle lebt von 1923 bis 1939 in Bonn. Sie ist seit 1917 mit dem angesehenen Orientalistikprofessor Paul Ernst Kahle verheiratet. Zur Familie gehören fünf Söhne: Wilhelm (geb. 1919), Hans (geb. 1920), Theodor (geb. 1922), Paul (geb.1923) und Ernst (geb. 1927). Marie Kahle erzieht ihre Kinder in christlichem Glauben und lebt ihnen Werte wie Nächstenliebe und Gottvertrauen vor. Schon lange vor 1933 liest sie Hitlers „Mein Kampf“ und lehnt die NS-Ideologie ab.

Als am 10. November 1938 Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört werden, versuchen ihre Söhne jüdische Freunde zu warnen. Bei den meisten kommen sie jedoch zu spät und können nur noch bei Aufräumarbeiten helfen.

Obwohl Marie Kahle bewußt ist, dass die Hilfe bei jüdischen Nachbarn und Freunden Folgen haben kann, besucht sie am 11. November ihre Nachbarin Emilie Goldstein in ihrem verwüsteten Geschäft. Ihr Sohn Wilhelm hilft dort schon den ganzen Tag beim Aufräumen des Ladens. Ein Polizist überrascht sie dabei und notiert sich die Namen von Marie und Wilhelm Kahle. Am 17. November erscheint ein Artikel in der nationalsozialistischen Lokalzeitung „Westdeutscher Beobachter“. Darin werden Marie und ihr Sohn diffamiert und als „Verräter am Volke“ bezeichnet. Das ist der Anfang zahlreicher Maßnahmen und Anfeindungen, die in regelrechten Terror ausarten. Professor Kahle und Student Wilhelm Kahle müssen die Bonner Universität verlassen. Die Verfolgung der Familie führt schließlich dazu, dass Kahles nach England fliehen. Dort wird Marie Kahle immer wieder gefragt, wie es dazu kam, dass sie aus Deutschland hatten fliehen müssen. Um ihre Geschichte nicht immer wieder erzählen zu müssen, entschließt sich Marie Kahle ihre Erinnerungen aufzuschreiben. 1945 erscheinen diese Erinnerungen in englischer Übersetzung als Privatdruck. Es sollte noch über 50 Jahre dauern bis sie auch auf Deutsch erscheinen.