Dieser Projektbericht wurde von Nicola Wenge, der Dozentin des Projektseminars, verfasst:
Als mir Christoph Nonn vom Historischen Seminar der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Sommer 2006 anbot, an seinem Lehrstuhl ein Projektseminar abzuhalten, war mir schnell klar, dass ich mit den Student/innen Biografien für das „Lebensgeschichtliche Netz“ schreiben wollte.
Zunächst einmal hatte ich als Autorin für das „Lebensgeschichtliche Netz“ bereits die nötigen praktischen Erfahrungen gesammelt und gemerkt, wie viel Spaß das Erstellen multimedialer Lebensgeschichten macht. Außerdem braucht(e) das Projekt dringend weitere Biografien, damit es seinem Anspruch auf Multiperspektivität gerecht werden kann. Der wichtigste Grund war aber, dass das Schreiben für das Lebensgeschichtliche Netz ein perfektes didaktisches Instrument darstellt, um den Geschichtsstudent/innen zentrale Qualifikationen für ihren künftigen Beruf zu vermitteln. Das Seminar wurde dann im Wintersemester 2006/2007 unter dem Titel „Lebensgeschichten net. Erstellung multimedialer Biographien zur NS-Zeit im Rheinland“ abgehalten.
Die im Seminarzusammenhang gestellten Anforderungen waren allerdings ziemlich hoch gesteckt. Die Student/innen sollten nicht nur eine Person finden, deren Lebensgeschichte exemplarische Bedeutung für die NS-Zeit hat. Sie hatten auch die Aufgabe, selbstständig die erforderliche Quellengrundlage für die Lebensgeschichte zusammentragen. Außerdem waren sie aufgefordert, ihre Materialgrundlage quellenkritisch zu hinterfragen und ihre inhaltliche und methodische Vorgehensweise schriftlich zu reflektieren, um sie dadurch für die Leser/innen nachvollziehbar zu machen (vgl. hierzu die Texte: Auswahlkriterien: Zur Person und Zur Quelle). Genauso anspruchsvoll wie diese historiographische Grundlagenarbeit war das Verfassen der Lebensgeschichten selbst. Die Lebensgeschichten mussten gut strukturiert sein, wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und den redaktionellen Standards eines multimedialen Internettextes entsprechen, um auch wirklich auf der
Website des „Lebensgeschichtlichen Netzes“ veröffentlicht zu werden. Oder anders ausgedrückt: Der Semesterkurs „Lebensgeschichten.net“ war zugleich ein Crash-Kurs in Theorie, Methodologie und Praxis der Geschichtswissenschaft sowie eine redaktionelle Einführung in das Schreiben für das Internet.
Ein Wagnis war ein solches umfassendes Programm auch deshalb, weil ich selbst noch über wenig Lehrerfahrung verfügte, das Vorwissen der Kursteilnehmer/innen nicht kannte und auch nicht auf vergleichbare Erfahrungen anderer Dozent/innen zurückgreifen konnte. Leider ist in der geschichtswissenschaftlichen Lehre ein multimediales Internetprojekt – zumindest an den mir bekannten Unis – immer noch Neuland.
Ich habe mich bei der Planung des Seminars dann dafür entschieden, im ersten Teil die wichtigsten Grundlagen zur Geschichte des NS, zur Quellenarbeit und zum Schreiben für das Internet gemeinsam mit den Student/innen Schritt für Schritt zu erarbeiten. Im zweiten Teil des Seminars sollte das Verfassen der Lebensgeschichte in Form einer Schreibwerkstatt begleitet werden. Schreibwerkstatt heißt, dass die jeweils neu verfassten Texte gemeinsam diskutiert und auf ihre inhaltlichen und formalen Vorzüge und Mängel abgeklopft wurden. Die Sitzungen wurden auf alle zwei Wochen, dafür aber 4 Stunden geblockt, um uns während der Veranstaltungen mehr Zeit zur Diskussion geben und den Student/innen gleichzeitig zu ermöglichen, auch umfangreichere Arbeitsaufträge tatsächlich zu erledigen. Ob sich diese Vorüberlegungen aber auch in der Praxis bewährten, zeigte sich erst im Semesterverlauf.
Schon zur zweiten Sitzung hatte sich eine kleine, aber lebendige und stabile Seminargruppe herausgebildet, die bis zum Schluss zusammen blieb. Sie bestand aus fünf Bachelorstudentinnen zwischen dem 3. und 7. Semester. Bis auf eine Ausnahme verfügten die Hochschülerinnen weder über fundierte Kenntnisse zur NS-Zeit noch brachten sie Erfahrungen aus der Oral-History oder der Biographieforschung ein. Auch hatten sie – ebenfalls mit einer Ausnahme – noch nie für das Internet gearbeitet. Es hieß also wirklich von Grund auf beginnen. Für uns alle bedeutete das einen erheblichen Arbeitsaufwand.
Als Dozentin entwarf ich – über die obligatorische Literaturliste und den Seminarordner mit Grundlagentexten hinaus – zu jeder Sitzung einen speziell zugeschnittenen Leitfaden mit den wichtigsten Grundinformationen und Praxistipps. Per Mail und Telefon stand ich außerdem für Fragen zur Verfügung und versorgte die Studentinnnen auch noch einmal gezielt mit Literatur. Besonders umfangreich war natürlich die redaktionelle Betreuung der einzelnen Lebensgeschichten am Ende des Semesters. Im Gegenzug sollten die Studentinnen von Treffen zu Treffen einen konkreten Arbeitsauftrag erfüllen, der genau an dieser Stelle nötig war, um die Lebensgeschichte auch schreiben zu können.
Manchmal haperte es an der punktgenauen Umsetzung dieser Aufträge, so dass ich strenger wurde, als ich mir das vorher hätte vorstellen können. Aber insgesamt war ich von dem Engagement der Studentinnen, ihren inhaltlichen Fortschritten und der offenen Diskussionsatmosphäre in den Sitzungen sehr beeindruckt. Ganz zu unrecht hatte ich im Vorfeld befürchtet, dass sich einzelne Studentinnen in den Schreibwerkstattsitzungen vielleicht auf Kosten anderer profilieren würden oder sich manche nicht trauen würden, ihre Texte zu präsentieren. Dieser solidarische Umgang untereinander war umso schöner, weil nicht alle Texte die gleiche Qualität aufbrachten. Diese Erfahrungen wogen den erhöhten Arbeitsaufwand – zumindest für mich, ich denke aber auch für die Studentinnen - mehr als auf. An dieser Stelle muss allerdings auch erwähnt werden, dass trotz intensiver Bemühungen eine Studentin ihre Lebensgeschichte nicht zu Ende schrieb, weil sie sich fachlich dazu nicht in der Lage sah.
Der Gruppenzusammenhang wurde sicher auch durch gemeinsame Exkursionen in die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf und das NS-Dokumentationszentrum Köln, sowie einen gemeinsamen Café und Weihnachtsmarktbesuch gestärkt. Die Exkursionen waren aber natürlich auch thematisch auf das Seminar zugeschnitten. Hilde Jakobs aus Düsseldorf berichtete über die Düsseldorfer Gedenkstättenarbeit mit Zeitzeug/innen und erklärte, was aus ihrer Sicht beim Erstellen einer Biografie zu beachten ist. Martin Rüther aus Köln, der das „Lebensgeschichtliche Netz“ entwickelt hatte, erläuterte die Konzeption und stellte die Arbeit mit der Datenbank vor.
Besonders erfreulich finde ich, dass die Studentinnen ohne inhaltliche Vorgaben genau solche Personen auswählten, die das Profil des „lebensgeschichtlichen Netzes“ stärkten. Fiona Würthner porträtiert anschaulich den jüdischen Medizinprofessor Albert Eckstein aus Düsseldorf. Sie bringt – auf der Grundlage eines umfassenden Bestands des Düsseldorfer Universitätsarchivs - den Aspekt der jüdischen Wissenschaftsmigration und der Remigration nach 1945 neu in den Projektzusammenhang ein.
Die drei übrigen Studentinnen entschieden sich dafür, noch lebende Personen zu interviewen und auf der Grundlage dieser neu generierten Quellen eine Biografie zu schreiben, obwohl dieser Oral History-Ansatz natürlich mit einem zusätzlichen Mehraufwand verbunden war. Alle drei porträtierten Personen können im weiteren Sinne als Mitläufer in der NS-Zeit bezeichnet werden. Bisher war diese Gruppe im „lebensgeschichtlichen Netz“ noch gar nicht vertreten; es dominierten Opfer- und Täterbiografien neben der Darstellung einiger weniger Widerständler. Umso erfreulicher ist es, dass die drei Lebensgeschichten verschiedene Facetten des Mitläufertums und dem Umgang damit nach 1945 abdecken.
Corinna Bick-Wolber zeigt gekonnt am Beispiel ihrer Großmutter Hannelore Janssen aus Solingen, wie stark junge Frauen in das Organisationsgeflecht des Systems eingebunden waren und warum das Regime für viele junge „Volksgenossinnen“ so attraktiv war. Zugleich macht sie deutlich, wie sehr die NS-Zeit bis heute verdrängt wird und wie sich diese Tabuisierung auf das intergenerationelle Verhältnis im Familienzusammenhang auswirkt.
Karin Mantelars beschreibt anhand des Dülkener Wehrmachtssoldaten Karl Hensel, welchen Druck das totalitäre Regime auf einstmals unangepasste Jugendliche ausübte, um sie in die „Durchlaufstationen“ des Regimes einzupassen und schließlich zu gehorsamen Wehrmachtssoldaten zu erziehen. Dass Karl Hensel weder im Interview noch in seinen schriftlichen Erinnerungen ausführlicher über seine Kriegserfahrungen berichtete oder den Umgang mit der NS-Zeit nach 1945 reflektierte, bereitete Frau Mantelars zwar einige Schwierigkeiten. Seine Erzählweise ist aber - zumindest für einen Teil der Wehrmachtssoldaten - durchaus als typisch anzusehen. Gleiches gilt für seinen Rückzug in das Privatleben, mit dem Hensel den Zweiten Weltkrieg überstand.
Einen ganz besonderen Weg im Umgang mit der NS-Zeit wählte der Düsseldorfer Jupp Angenfort, dessen Lebensgeschichte von Karin Heimann verfasst wurde. Angenfort wandelte sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zum überzeugten Kommunisten, der mit seiner Vergangenheit aus Weimarer Republik und NS-Zeit radikal brach und danach ein dezidiert politisches Leben führte. Obwohl Frau Heimann anfänglich mit dem Themenkomplex „Kommunismus“ nichts anfangen konnte, eignete sie sich im Laufe des Seminars ein umfangreiches Wissen hierzu an. Dieser Lernprozess wurde sicher auch durch den persönlichen Kontakt zum Zeitzeugen angestoßen und begleitet.
Nachträglich kann ich feststellen, dass sich die Planung des Seminars in weiten Teilen bewährt hat, was zu einem großen Teil der aktiven Mitarbeit der Studentinnen geschuldet ist. Um sie etwas stärker zu entlasten, würde ich heute nicht mehr von ihnen verlangen, die fertige Lebensgeschichte bereits zum Ende des Semesters abzuliefern. Ansonsten würde ich dieses Seminar jederzeit noch einmal in dieser Form halten und kann anderen Interessierten nur empfehlen, das Lebensgeschichtliche Netz ebenfalls als didaktisches Instrument einzusetzen. Die im Netz veröffentlichten Biografien sind sicher das überzeugendste Argument dafür.