Auswahlkriterien zur Person

Rudolf Hartung war Arzt in Köln - aber nicht nur das: schon 1930 in die NSDAP eingetreten, stieg er 1932 zum Gauobmann des Nationalsozialistischen Ärztebundes und damit zum höchsten ärztlichen Parteirepräsentanten im Gau Köln-Aachen auf, eine Funktion, die er seit 1934 als Gauamtsleiter für Volksgesundheit bis 1945 behielt. 1938/39 schließlich wurde er zum Leiter der rheinischen Bezirksstellen der 1936 geschaffenen Reichsärztekammer bestellt und damit leitender Standesfunktionär für rund 7.000 Ärzte. Rudolf Hartung war eine Art „Schnittstelle“ für alle ärztlichen und medizinischen Entscheidungen auf Gauebene. An seinem Lebenslauf, insbesondere aber auch an seiner Verteidigungsstrategie in den Spruchgerichtsverfahren nach 1945 lässt sich die Pervertierung ärztlichen Handelns unter dem NS-Regime bis hin zur Euthanasie exemplarisch nachzeichnen.

Rudolf Hartung war jedoch nicht nur Arzt und hoher NS-Funktionär, sondern auch Familienvater. An seinem Beispiel lässt sich in teilweise erschreckender Deutlichkeit erahnen, was es bedeutete, wenn ein zutiefst von rassistischem Gedankengut durchdrungener Mensch versucht, diese vorgeblichen „Ideale“ nicht nur politisch, sondern auch in seiner Familie durchzusetzen.

Außerdem kann Hartung ohne Zweifel zu den „Unverbesserlichen“ gezählt werden, das heißt zu jener Gruppe führender Nationalsozialisten, die nach 1945 nicht nur weiterhin informelle Kontakte untereinander pflegten, sondern der NS-Ideologie weitgehend ungebrochen verhaftet blieben. Gleichzeitig lässt sich an der vergleichsweise mehr als milden Beurteilung und Bestrafung Hartungs durch deutsche Gerichte und Entnazifizierungsausschüsse ablesen, wie schnell auch die Gesellschaft bereit war, die Geschehnisse der Jahre zwischen 1933 und 1945 zu verdrängen. Als unglaubwürdig galten umgehend wieder jene, die verfolgt worden waren, während Täter wie Rudolf Hartung oftmals in geachtete Positionen des bürgerlichen Lebens aufrückten.

Da der Fall Hartung zahlreiche Aspekte aus dem Themenkomplex ärztlichen Handelns während der NS-Zeit berührt, eignet sich dessen Lebensgeschichte auch als Hintergrund, vor dem im Rahmen des Lebensgeschichtlichen Netzes weitere Arztbiografien – ob von Tätern, Mitläufern oder Opfern – vorgestellt und durch vergleichende Betrachtung beurteilt werden können.