Auswahlkriterien zur Person

Bei der Person der Hannelore Janssen handelt es sich um meine Großmutter. Ihre Biographie ist im Rahmen eines Projektseminars an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entstanden - eigentlich war es Vorgabe, die Biographie einer Person aus dem Rheinland zu verfassen, jedoch hat es der Seminarzusammenhang ermöglicht, auch eine Solingerin zu portraitieren.

Es ist eine spannende Aufgabe, sich der Biographie einer Verwandten zu nähern, allerdings hat sich herausgestellt, dass dies auch mit Schwierigkeiten behaftet sein kann. Es war nicht durchweg einfach, die unabdingbare Objektivität zu bewahren – vor allem, da es sich im Fall von Hannelore Janssen um eine typische Mitläuferin handelt, die auch nach dem Krieg – zumindest vordergründig - kaum Reflektionsbereitschaft gezeigt hat. Ich hatte bei der Beschäftigung mit ihrer Biographie an verschiedenen Stellen das Gefühl, ein Tabu zu brechen. Innerhalb meiner Familie war es bislang nicht üblich, sich intensiv mit der Rolle der Großeltern im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. So habe ich ehrlicherweise beim Verfassen der Biographie verschiedene Phasen durchlaufen – ich schwankte zwischen massiver Verurteilung ihres Handelns und verständnisvollem Blick auf ihr Mitläufertum. Aus diesem Grund habe ich mich mit entsprechender Literatur, die sich dem komplexen Thema des Familiengedächtnisses widmet, beschäftigt. Das nun vorliegende Ergebnis halte ich für authentisch und wissenschaftlichen Ansprüchen genügend.

Die Biographie von Hannelore Janssen ist als exemplarisch anzusehen, da sie die überwiegende Mehrheit der Deutschen und ihr Mitläufertum nahezu idealtypisch verkörpert. Sie stammt aus einem völlig unpolitischen Elternhaus und hat die nationalsozialistische Doktrin wohl auch deshalb unhinterfragt als gegeben hingenommen. Als sie in den BDM eintritt, ist sie ein junges Mädchen von zwölf Jahren und reflektiert ihr Handeln noch nicht. Die Propaganda steht für sie hier keinesfalls im Vordergrund, vielmehr fühlt sie sich unter den Gleichaltrigen wohl und empfindet ihren Beitritt als selbstverständlich, da all ihre Freundinnen mitmachen.

Auch ihr weiterer Werdegang ist als typisch zu bezeichnen. Sie absolviert ein freiwilliges Landjahr, nachdem hierfür in der Schule Propaganda gemacht wurde – mehrere Freundinnen melden sich ebenfalls an. Das umfassende Funktionieren des nationalsozialistischen Regimes erklärt sich demnach auch aus der Engmaschigkeit des Systems – Mädchen und Jungen haben vom Kleinkindalter an die Möglichkeit, Gruppen beizutreten und werden so in das Regime integriert. Beginnend mit der Kükenschar und den Jungmädeln, weiter mit dem BDM und schließlich mündend in die NS-Frauenschaft, gibt es keine Lebensphase ohne die nationalsozialistisch organisierte Gemeinschaft von Geschlechtsgenossinnen. Die Attraktivitätsmomente hierbei sind nicht zu unterschätzen: hohes Gemeinschaftsgefühl, Aufwertung der eigenen Person im Kollektiv, Erweiterung der Handlungsspielräume v.a. für Mädchen.

Die folgenden Jahre mit Pflichtjahr in der Niederlausitz, Dienstverpflichtung und Reichsarbeitsdienst werden folglich von Hannelore Janssen als unumgänglich betrachtet. Sie ist den ganz und gar typischen „Durchlaufstationen“ des NS-Systems gefolgt, ohne Fragen zu stellen. Nach ihren Angaben „war das eben so“. Die Arbeit beim Luftschutzwarnkommando hat Hannelore Janssen sogar als gut erachtet, da sie dort das Gefühl hatte, etwas Sinnvolles für die Allgemeinheit zu tun; sie berichtet nicht ohne Stolz von dieser Zeit. Sie hatte also während der Kriegsjahre ein ausgesprochen bewegtes Leben – das Ziehen von Dienst zu Dienst und die ungeheure geforderte Mobilität trugen wohl auch mit dazu bei, dass wenig Zeit für Zweifel blieb. Dass dieses System des permanenten Einsatzes durchaus Methode im totalitären NS-Staat hatte, ist in der Geschichtswissenschaft heute unumstritten. Neben den praktischen Beweggründen – die arbeitende Frau wurde schlichtweg gebraucht – erklärt die enge lebensgeschichtliche Einbindung das lange Zeit fast reibungslose Funktionieren des Nationalsozialismus.

Über Angstmomente, Zweifel am Regime etc. ist von Hannelore Janssen fast nichts zu erfahren. Sie sieht sich noch heute gänzlich in der Rolle derer, die keine Wahl hatten und hat den Nationalsozialismus auch nach dem Krieg – zumindest scheinbar – kaum hinterfragt. Für die ungebrochen positive Bewertung der Jahre zwischen 1933 und 1945 gelten auch hier die immer wieder von anderen Zeitzeugen genannten Attraktivitätsmomente: Rückgang der Arbeitslosigkeit, außenpolitische Erfolge, die Rheinlandbesetzung, die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, Führerpersönlichkeit statt Parteienchaos etc. Auch das macht ihren Werdegang typisch für die Zeit des Nationalsozialismus und somit ihre Biographie als exemplarisch interessant.

Schließlich ist auch das dann folgende jahrzehntelange Verdrängen der Vorkriegs- und Kriegsjahre kein Einzelfall, was den folgenden Generationen oft so unverständlich geblieben ist. Eine Konfrontation mit dem eigenen Verhalten und eine kritische Reflektion dessen sowie des Nationalsozialismus allgemein scheint für viele die eigene Vergangenheit zu schmerzlich in Frage zu stellen.